Johann Baptist Maria von Vianney, Pfarrer von Ars - viertes Buch. Vianneys apostolisches Leben.
Erstes Kapitel: Beginn der Pilgerfahrten. Character derselben.
Viele Christen haben heutzutage die irrige Meinung, daß die göttlichen Wahrheiten nicht mehr jene Triumphe feiern wie in den ersten Jahrhunderten und daß sie auch nicht mehr denselben Einfluß auf das Gemüt des Menschen auszuüben vermögen. Viele sind sogar geneigt, die Schilderungen aus den ersten Zeiten des Christentums, wie wir sie in der Geschichte lesen, für übertrieben zu halten und meinen, die Einbildungskraft der Menschen habe diese Tatsachen mit Legenden ausgeschmückt. Allein sie irren sich; heute wie damals sind die Wirkungen des Christentums allenthalben, wo es sich zu seiner vollen Blüte entfaltet, noch die gleichen; heute wie damals übt es denselben gewaltigen, hinreißenden Einfluß auf Herz und Gemüt des Menschen aus. Unter vielen Beweisen, die wir zur Bestätigung dieses Satzes anführen könnten, wollen wir bei unserer tatsächlichen Begebenheit stehen bleiben und uns nur auf die Pilgerfahrten beschränken, deren wir schon mehrfach in diesen Blättern erwähnt haben und die jetzt ausführlicher besprochen werden sollen.
In den Worten eines Mannes aus dem Volke finden wir die Beglaubigung dessen; er sagt: „Bevor ich in Ars gewesen und den guten Vater gesehen hatte, konnte ich nur schwer alles das glauben, was uns das Leben der Heiligen erzählt. Vieles darin schien mir unmöglich. Jetzt aber glaube ich alles, denn ich habe mit eigenen Augen das alles gesehen und noch mehr.“
Zu allen Zeiten erweckte Gott in seiner Kirche Männer, welche die Menge begeisterten und darum einen großen Zudrang fanden; die allgemeine Verehrung, deren Gegenstand sie waren, dauerte noch fort, nachdem sie schon längst aus dem Leben geschieden waren, so daß Tausende zu ihrem Grabe pilgerten. Dieses wiederholte sich im Leben des Pfarrers von Ars. Der Ruf seines heiligen Lebens, seiner Demut und Abtötung, seines apostolischen Eifers zog Pilger herbei aus allen Teilen Europas, die alle von ihm Rat, Hilfe oder leibliche und geistige Heilung erwarteten, und noch jetzt, nach seinem Tode, wird sein Grab von vielen besucht.
Frankreich, in dessen Mitte er lebte, beteiligte sich ungemein zahlreich bei diesen Pilgerfahrten, so daß man mit Recht erstaunt ist, in diesem Lande, das so vielfach durch Revolution und politische Kämpfe zerrissen wurde, das der Unglaube von allen Seiten angreift, noch so viel Glauben zu finden! Da sah man nicht nur schwache Frauen – nein, stolze, angesehene Männer erschienen und beugten ihr Haupt vor dem einfachen Landpfarrer.
Doch möchte man fragen: Wie gelangte denn der demütige, einfache Pfarrer zu einem solchen Rufe? Vor allem durch seine Güte und Milde. Man erzählte sich zuerst in der Umgegend von der gütigen Aufnahme, die man gefunden, von seinem Mitleid gegen alle Unglückliche, von seiner Barmherzigkeit, von seiner Güte gegen die Sünder, mit einem Worte von dem Trost und der Hilfe, die er allen gewährte. Die natürliche Folge davon war, daß auch andere zu ihm eilten, die durch ihre eigene Anschauung alles bestätigt fanden, was man ihnen erzählt hatte. Diese berichteten wieder anderen, was sie gesehen; so kam es, daß der Zudrang täglich größer wurde, obgleich der demütige Pfarrer sich bemühte, verborgen und unbeachtet zu bleiben. „Wer sich selbst erniedriget, wird erhöhet werden“, sagt das Evangelium – das geschah hier augenfällig.
Nachdem der Zulauf von 1825–1830 stets zugenommen hatte, gab eine berühmte Heilung, die man als ein Wunder betrachtete, den Pilgerfahrten einen neuen Aufschwung. Obgleich viele, welche die Gnadengaben Gottes leugneten, auch diese Wunder leugneten, so hielt die Menge des gläubigen Volkes fest daran und ließ sich nicht beirren.
In den folgenden Jahren geschahen fort und fort Wunder vor dem Bilde der hl. Philomena, und immer zahlreicher strömte man nach Ars. Indessen war es nicht um dieser Wunder willen allein, daß die Menge täglich zunahm, sondern vorzüglich auch um des Gebetes des Pfarrers willen; man verehrte seine Andachtsglut und seine Liebe zu dem im Sakramente gegenwärtigen Heiland. Es scheint, die Vorsehung habe der allen Eitelkeiten ergebenen Bevölkerung unseres Jahrhunderts ein Beispiel heiliger Armut, Demut und Herzenslauterkeit geben wollen. Während die Schöngeister sich über die Beichte und deren Einfluß lustig machten, eilte das Volk en Masse nach Ars, um dort einen Beichtvater zu finden. Die Fremden, welche nach Ars kamen, hielten sich für Entbehrungen und Mühseligkeiten reichlich belohnt, wenn sie zu Vianneys Füßen die Last ihres Gewissens erleichtern, sich dadurch mit Gott aussöhnen und den innern Frieden erlangen konnten; nie vergaßen diese dann die Güte, Geduld und Sanftmut des Pfarrers.
Einige kamen wohl auch aus Neugierde, weil sie mit eigenen Augen den Mann sehen wollten, von dem alle mit Begeisterung sprachen; allein wenn Neugierde die Triebfeder des Fremdenzudranges gewesen wäre, so hätten die schlechten Einrichtungen in dem armen Dorfe und die damit verbundenen Unbequemlichkeiten wohl bald ein Ziel gesetzt. Da dieselben aber täglich zunahmen und viele Pilger nicht nur einen Tag, sondern viele Tage und Wochen lang sich allen Beschwerden unterzogen, so muß ein höherer Beweggrund sie angetrieben haben. Die Pilger waren oft aufeinander gedrängt; denn die kleinen und niedrigen Häuser in Ars waren nicht dazu hergerichtet, so viele Fremde aufzunehmen; dabei war die Nahrung schlecht und kaum genügend.
Die stets zunehmende Fremdenmenge nötigte indessen die Bewohner von Ars, für deren Unterkunft zu sorgen, und man errichtete größere und bequemere Häuser für dieselben, meistens in der Nähe der Kirche. Im Jahre 1835 wurde eine regelmäßige Stellwagenfahrt eingerichtet und auch durch Paketboote den Fremden Gelegenheit zum Besuche von Ars gegeben. Von da an kamen jährlich mehr als 20.000 Pilger nach dem bis dahin unbekannten Dorfe.
Der heilige Philippus Neri hatte das Gelübde gemacht, keine Stunde mehr für sich zu benutzen; wenn nun auch Vianney durch kein Gelübde sich gebunden, so lebte er gleichwohl nur für andere, indem er fast fortwährend in den Beichtstuhl gebannt war.
Seit jener Zeit mußte er sich dann auch jeglichen Ausgang untersagen, um immer bereit zu sein für alle, die nach ihm verlangten. Als er daher im Jahre 1835 sich bei den Priester-Exercitien einfand, riet ihm sein Bischof, nach Ars zurückzukehren, indem er ihm erklärte: „Kehren Sie heim; Sie bedürfen keiner Exercitien; aber in Ars sind Seelen, die Ihrer bedürfen.“
Und in der Tat war ihm dort fortwährend ein reiches Feld geboten; viele Früchte seines Wirkens waren augenscheinlich, jedenfalls aber wird es erst am jüngsten Tage offenbar, was der treue Diener getan hat.
So viel steht fest, daß das bescheidene Dorf in jener Zeit ein erhabenes Schauspiel bot. Alle Pilger, die sich einfanden, schieden voll Begeisterung, tief erschüttert, mit dem festen Vorsatz der Lebensbesserung, und zwar nicht nur jene, die im gläubigen Vertrauen dahin geeilt waren, sondern selbst jene, welche die Neugierde herbeigeführt hatte, konnten sich des ergreifenden Eindruckes nicht erwehren.
„Wenn meine Erinnerungen an Ars auftauchen,“ schreibt ein Pilger, „dann frage ich mich, was ich dem lieben Gott dafür geben soll, daß er mich dahin geführt hat.“
In dem ausführlichen Leben von Monin sind mehrere Briefe angeführt, in welchen einstimmig geschildert wird, welch unauslöschlichen Eindruck der Aufenthalt auf die Pilger gemacht hat. Sie gestehen ein, daß sie gläubiger geworden sind, daß ihr Glaube sich durch alles, was sie dort gesehen und gehört, neu belebt und entzündet habe, und der Pfarrer ihnen als ein lebendiger Beweis für die Wahrheit der heiligen Religion erschienen sei.
Die Pilgerfahrten, die im Jahre 1835 begannen und bis zum Tod des guten Pfarrers andauerten, fallen in eine Zeit, wo Frankreich verschiedenartige politische Kämpfe durchzumachen hatte. Der Anfang fällt in die Regierung Louis Philipps, des Bürgerkönigs, eine Zeit, die sich besonders in den letzten Jahren dieses achtzehnjährigen Königtums durch eine allgemeine Korruption auszeichnete, und mit dem Sturz dieses Thrones in der Proklamation der Republik endete. Das ungläubige Frankreich, erschreckt durch die selbst herbeigeführte Katastrophe, wandte sich, wenigstens teilweise, zur Kirche zurück und suchte Schutz und Rettung vor der drohenden Anarchie in den Lehren der Kirche. An diesem, wenn auch nur teilweise augenblicklichen Umschwung zum Guten, hat Ars seinen reichen Teil. Die Liebe seines Pfarrers, seine Gebete und christliche Weisheit waren in dieser traurigen Zeit für viele Verirrte eine Zuflucht und ein Schutz. Zu dem armen Landpfarrer eilten hochgestellte Ratsmitglieder, in deren Händen Frankreichs Zukunft lag; mehrere unter ihnen hielten dort geistige Übungen.
Man hat berechnet, dass durch die Omnibusfahrten im Laufe eines Jahres über 80.000 Pilger angekommen sind, und zwar nicht nur aus allen Teilen Frankreichs, sondern auch aus anderen Ländern, aus Belgien, Deutschland, England und Italien. Alle diese Pilger hatten nur durch frühere Besucher von dem Pfarrer von Ars gehört; denn solange er lebte, war in keiner Zeitschrift die Rede von ihm; erst nach seinem Tod schrieb man über ihn. Alle Volksklassen und Stände waren vertreten; die Reichen brachten Geschenke; die Armen holten sich Almosen; alle suchten dort die Gesundheit des Leibes und der Seele. Blinde, Taube, Lahme, Epileptische, Wahnsinnige kamen weit her; jedoch wollen wir nur kurz daran erinnern, damit der Leser nicht glauben möge, die leiblichen Heilungen seien der Zweck dieser Pilgerfahrten gewesen, während es doch vorzugsweise die Bekehrung der Sünder ist, wodurch Gott seinen Diener so wunderbar erscheinen ließ.
Es war indessen nicht immer notwendig, dass die Kranken nach Ars kamen. Waren sie durch Armut daran gehindert oder durch ihre Krankheit selbst, so waren oft das Gebet des frommen Pfarrers und die Fürbitte der heiligen Philomena genügend; solchen Kranken pflegte der Pfarrer auch wohl etwas Öl aus der vor dem Altar der hl. Philomena brennenden Lampe zu senden. Viele dieser wunderbar Geheilten pilgerten später nach Ars, zur Danksagung für die ihnen gewordene Gnade.
Vianney sah so täglich, ja stündlich sich von den verschiedensten Persönlichkeiten umgeben; jeder Stand, jede Lebensstellung, jedes Alter waren dort vertreten; die Mehrzahl jedoch bestand aus Armen, Kranken und Elenden. Seine zartfühlende Seele wurde schmerzlich davon berührt, sodass er abends, wenn er im vertraulichen Kreise mit seinen Hilfspriestern saß, oft bittere Tränen des Mitleids vergoss und zu sagen pflegte: „Man braucht nur nach Ars zu kommen, um kennenzulernen, was die Sünde ist, und zu beurteilen, welches Unheil Adam auf seine Nachkommen vererbt hat.“
Die Menge erfasste gar wohl den heiligen Eifer Vianneys; man kann sich kaum eine Vorstellung machen von der Sehnsucht, mit der man nach ihm verlangte, von der Bereitwilligkeit, mit der man alles tat, was er wünschte, sowie von der Geduld, mit der alle ruhig warteten, bis die Reihe an sie kam. Vianney mochte morgens noch so früh erscheinen, stets fand er Pilger, die ihn erwarteten. Viele verbrachten die Nacht dort, deshalb hatte man die Vorhalle der Kirche zu einer Art Schlafstätte eingerichtet. Die Reihenfolge der Ankunft wurde genau am Beichtstuhl innegehalten; indessen geschah es doch zuweilen, dass Vianney einen oder den andern aus dem Gedränge hervorrief, und manche Tatsache berechtigt zu dem Schluss, dass er aus der ihm fremden Volksmenge diejenigen herauszufinden wusste, die irgendeines Grundes wegen nicht lange warten konnten.
Oft suchten auch die Fremden durch irgendeine List oder durch eine geeignete Empfehlung früher Zutritt zu erlangen. Andere behaupten, sie hätten den Beistand von Vianneys Schutzengel sich erbeten und seien wirklich auf die eine oder andere Art erhört worden.
Im Allgemeinen gestattete der Pfarrer keinerlei Vordrängen. Eines Tages hielt ein prächtiger Wagen vor der Kirche von Ars. Eine vornehme Dame stieg aus und begab sich in die Kapelle, wo Vianney Beicht hörte. Dort wurde sie an weiterem Vordringen durch die Menge gehindert. Sie meinte in gebieterischer Weise sich Platz zu verschaffen; allein dies half ebenso wenig wie gute Worte. Sie suchte daher einen Hilfspriester auf und sagte zu ihm: „Das ist doch merkwürdig, schon eine gute Viertelstunde lang versuche ich es, zum Beichtstuhl des Herrn Pfarrers durchzudringen, aber es ist unmöglich. Ich liebe das lange Warten nicht; das kann ich nirgends, weder beim König von Bayern noch beim Papst.“ – „Es tut mir leid“, erwiderte der Missionär, „aber ich kann wirklich nichts daran tun. Hier in Ars werden Sie immer warten müssen.“ – Die Gräfin beruhigte sich etwas; aber als Vianney vom Beichtstuhl aufstand, sagte sie zu ihm in einem hochmütigen Ton: „Herr Pfarrer, ich werde bei Ihnen beichten!“ – „Schon gut, Madame“, antwortete Vianney, „schon gut. Hier haben schon andere gebeichtet!“
Einer anderen Dame, die in Begleitung ihres Mannes sich vorgedrängt und dadurch Ruhestörung veranlasst hatte, rief er zu: „Madame, wenn Sie auch die Kaiserin wären, Sie müssen warten, bis die Reihe an Sie kommt.“
Einer anderen Dame, die in Begleitung ihres Mannes sich vorgedrängt und dadurch Ruhestörung veranlasst hatte, rief er zu: „Madame, wenn Sie auch die Kaiserin wären, Sie müssen warten, bis die Reihe an Sie kommt.“