Johann Baptist Maria von Vianney, Pfarrer von Ars - viertes Buch. Vianneys apostolisches Leben.
Fünftes Kapitel: Vianneys innere Leiden
Wenn, wie wir bis jetzt gezeigt, Vianneys Wirken so großartig und segensreich war, wenn die Liebe und das Vertrauen des Volkes ihn von allen Seiten umgab, so liegt der Grund offenbar darin, dass Vianney vollkommen erfasst hatte, der Priester müsse, mehr noch als die Gläubigen, ein Leben des Opfers und des Gebetes führen. Wollte er die Seelen zur Liebe Gottes entzünden; wollte er den Sündern das Bekenntnis ihrer Sünden erleichtern; wollte er sie zu wahren Christen umwandeln, so wären seine Ermahnungen nicht hinreichend gewesen, sondern der Jünger musste leiden und sühnen und den Fußstapfen seines Herrn und Meisters folgen. Wir haben schon oben, als von seinem strengen Fasten die Rede war, darauf hingedeutet, dass er sich stets neue Bußübungen für die Bekehrung der Sünder auferlegte, während er von den Sündern selbst nur wenige Werke der Buße verlangte. In unserer selbstsüchtigen Zeit verstehen es nur wenige Menschen, dass die Macht der Liebe nur in der Macht des Opfers liegt. „Ohne Leiden lebt man nicht in der Liebe“, sagt der heilige Thomas von Kempen in der Nachfolge Christi. Der Herr selbst stillt nun oft diesen Durst nach Leiden bei seinen Dienern, indem er ihnen bittere, tief einschneidende Leiden sendet, damit sie umso empfänglicher für die Leiden der Seelen sind, die Trost und Hilfe bei ihnen suchen.
Auf diesem Wege der Leiden sollte auch Vianney zu seinem erhabenen Berufe eingeführt werden. Er hatte sich bereits selbst durch Selbstverleugnung und Abtötung zum Opfer gebracht; er übte strenges Fasten und Bußübungen aller Art; Gott aber sendete ihm noch innere Leiden so reichlich und in so hohem Maße, dass es wohl kaum jemand begreifen wird. Wer sich darüber verwundert, den möchten wir daran erinnern, dass Christus der Herr selbst in der Wüste versucht werden und am Ölberge die größte Seelenangst hatte ausstehen wollen; dass er, der Herr, am Calvarienberge ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ – Doch niemand lässt Gott über seine Kräfte versucht werden. Sehr schön und wahr ist der Gedanke des hl. Augustin, wenn er behauptet, ein Christ könne mehr leiden als ein anderer Mensch, und ein Heiliger mehr als ein gewöhnlicher Christ.
Als Zeuge für die inneren Leiden des Pfarrers von Ars zitiert Abbé Monin einen Priester, dem es mehr als irgend jemand vergönnt war, in diese heroische Seele zu schauen, und dem Vianney Dinge anvertraute, die niemandem sonst so klar geworden. Von diesem Priester nun erfuhr man, dass Vianney fortwährend an der bittersten Trostlosigkeit litt. Um die Verdienste des treuen Dieners zu mehren, legte der Herr gleichsam einen Schleier auf seine Augen, sodass er nicht gewahrte, was er wirkte. Er hielt sich für ganz nutzlos und sah in sich weder Glauben noch Frömmigkeit, noch Einsicht, noch Wissenschaft, noch Urteilskraft, noch Tugend. Er glaubte, er sei nur in der Welt, um alles zu verderben. Die tiefe Demut seines Herzens entlockte ihm über seine Erbärmlichkeit bittere Tränen. „Wie ist das möglich?“ wird freilich mancher fragen; dieser Mann, das Wunder seines Jahrhunderts, die Bewunderung aller Stände, ein Gegenstand der allgemeinsten Verehrung, dieser Mann seufzt unter der erdrückenden Wucht seiner Erbärmlichkeit? Der Grund seines Schmerzes lag nur in dem Gedanken, dass er sich so unvollkommen fand.
Gerne hätte er das Gefühl seiner Unvollkommenheit, die Dürre und Trockenheit seiner Seele, selbst das Gefühl seiner Unfähigkeit ertragen und sich als willenloses Werkzeug in die Hand Gottes ergeben; denn er wusste, dass die glaubensvolle Stimmung der Seele, vermöge welcher sie sich blindlings der Führung Gottes überlässt, gut ist; allein dennoch verlieh ihm selbst dieses Bewusstsein keinen Trost; ihn folterte fortwährend der Gedanke, ob das, was er tue, auch Gott angenehm sei, ob er der Liebe oder des Hasses würdig sei. Gerade diese Kämpfe machten ihn zu einem so trefflichen Seelenleiter; weil er dadurch die Wege Gottes besser kennenlernte, Nachsicht mit allen anderen hatte, die er für besser als sich selbst hielt, und endlich Teilnahme für alle Leidenden hatte.
In dem Seelenleben ist der Anfang gewöhnlich die Zeit der fühlbaren Gnade, alles erscheint der Seele da leicht, anziehend und anmutig, und der Anfänger empfindet eine bis dahin ungeahnte Freude und Wonne. Gott gibt viel und fordert wenig. Schreitet der Mensch aber vorwärts, so muss er erstarken und in edelmütiger Weise ein Leben des Opfers führen, um so seinem Gotte sich dankbar zu erweisen. So ging es bei Vianney; jetzt nachdem er soweit vorgeschritten war, musste er, alles göttlichen Trostes beraubt, treu im Weinberge des Herrn arbeiten. Wohl gab es auch für ihn einige Augenblicke des Trostes; wie Christus am Ölberge durch einen Engel gestärkt wurde, so fand auch er jedes Mal Kraft, Stärke und Trost im Gebete; aber dennoch verschwanden seine Leiden nie ganz und auf dem tiefsten Grunde seiner Seele lagerte stets eine düstere Traurigkeit.
Eines Tages sprach er zu einem jungen Geistlichen über die schwere Aufgabe des Priesters; dieser, ein reich begabter, liebenswürdiger Mann, meinte, es gäbe doch im Klerus recht viele sehr würdige Leute.
„Freilich, mein Freund“, erwiderte ihm Vianney, „sicher gibt’s recht würdige Leute unter ihnen; aber wo sollten sie denn auch sein, wenn nicht da? Indes, um die heilige Messe zu lesen, müsste man auch eigentlich ein Seraph sein!“ – Heiße Tränen rollten ihm bei diesen Worten über die Wangen, und erst nach einer Pause fuhr er fort: „Wüsste man, was die heilige Messe ist, man würde sterben! Das Glück, eine heilige Messe lesen zu können, wird man erst im Himmel begreifen. Mein Freund, die Ursache all des Unglücks und aller Lauigkeit eines Priesters liegt nur darin, dass er auf die hl. Messe nicht sattsam sein Augenmerk richtet.“
„Ach, mein Gott! Wie ist ein Priester zu bedauern, wenn er an den Altar geht, wie zu einer gewöhnlichen Sache! Es gibt Priester, die so gut begannen und die heilige Messe in den ersten Monaten so würdevoll lasen, und später? O, wenn man bedenkt, dass Gott sich gewürdigt hat, diese heilige Handlung so erbärmlichen Menschen anzuvertrauen wie uns! Vielfach sind die Ursachen dieses Übels darin zu suchen, dass man sich zu viel mit den Angelegenheiten der Welt, mit der Politik und den Zeitungen befasst; dann tritt man zum Altare hin und hat den Kopf voll von diesen Dingen. – Ich hätte große Lust, mich zurückzuziehen. Wie glücklich wäre ich!“
„Wenn der hochwürdigste Bischof“, warf der junge Mann ein, „damit zufrieden wäre, würden Sie sich dann schnell losreißen?“
„Ganz sicher! Freilich darf man das Vertrauen nicht verlieren, aber wie wenig heilige Pfarrer finden Sie im Breviergebete! Unter den hl. Priestern waren die meisten Ordensleute und Missionare. Der hl. Franziskus Regis und der hl. Vinzenz von Paul wollten nicht bis zum Ende in der Seelsorge arbeiten. Es gibt viel mehr kanonisierte Bischöfe als Pfarrer, obgleich es doch viel mehr Pfarrer als Bischöfe gibt. Was uns Pfarrer hindert, Heilige zu werden, das ist der Mangel an Betrachtung. Man kehrt nicht in sich ein, man weiß nicht, was man tut. Betrachtung, Gebet, Vereinigung mit Gott – das ist’s, was uns fehlt. – O, wie unglücklich ist ein Priester, der kein innerliches Leben führt! Dazu bedarf es aber der Ruhe, des Stillschweigens, der Exerzitien; mein Freund, Gott spricht nur in der Einsamkeit. – Ich habe öfters zu unserm hochwürdigsten Bischofe gesagt: Wollen Sie Ihre Diözese bekehren, so müssen Sie aus Ihren Pfarrern Heilige machen. Ach, mein Freund, es ist schrecklich, Pfarrer zu sein! – Ein großes Unglück für uns Pfarrer ist es, dass die Seele so leicht erschlafft. Anfangs bekümmert uns der Zustand derer, die Gott nicht lieben, später sagt man: Es ist schlimm, dass sie ihre Pflichten nicht üben – und dabei lässt man es bewenden.“
Auch das Alleinstehen des Pfarrers betrachtete Vianney als eine Gefahr für denselben; leider sind die darauf bezüglichen Aussprüche nicht gesammelt, und wir können also darüber nichts angeben.
Eines Tages schilderte Vianney einem Mitbruder in etwa seine Trostlosigkeit, indem er zu ihm sprach: „Meine Seele ist traurig bis zum Tode. Meine Ohren hören nur missliche Dinge, die mein Herz foltern. Ich finde keine Zeit mehr zum Beten. Ich kann es hier nicht mehr aushalten. Sagen Sie mir, wäre es eine große Sünde, wenn ich ungehorsam gegen den Bischof wäre und heimlich von hier entwiche?“
„Herr Pfarrer“, war die Antwort, „wollen Sie nicht mit einem Male alle Früchte Ihrer Arbeit verlieren, so kämpfen Sie gegen diese Versuchung.“
Kurz vor seinem Tode äußerte er noch einmal: „O, wie traurig ist dieses Leben! Hätte ich, als ich nach Ars kam, alle die Leiden vorhergesehen, die meiner hier harrten – ich wäre sofort vor Furcht gestorben.“
Vielleicht wähnen viele, die beständige Arbeit im Beichtstuhl und auf der Kanzel hätte ihn zerstreut; allein im Gegenteil – das große Zutrauen der zahlreichen Menge war ihm eine schwere Bürde, nicht wegen der damit verbundenen Beschwerden, sondern weil es seine Demut verletzte und seine Angst vor seiner Unfähigkeit verdoppelte. Er hielt sich selbst für einen Heuchler, und es fiel ihm nicht ein zu glauben, dass in ihm die Gnade Gottes wirke; er meinte, das in Masse nach Ars strömende Volk müsse in einer großen Täuschung sich befinden, dass es gerade zu ihm, dem erbärmlichsten und unwürdigsten aller Priester eile.
Nicht minder schmerzlich war es seiner reinen, Gott liebenden Seele, täglich hören zu müssen, wie sehr Gott von den Menschen beleidigt werde: „Mein Gott!“ rief er einst aus, „wie lange soll ich denn immer mit Sündern verkehren? Man beleidigt Gott in so frecher Weise, dass man meinen sollte, das Ende der Welt sei nahe. Gäbe es nicht noch schöne Seelen, die das Herz erquicken, so könnte man das Leiden dieses Lebens nicht ertragen. – Ach! Die armen Sünder sind doch zu unglücklich!“
In einer seiner Katechesen sprach er einmal wieder über die schwere Bürde des Priesteramtes, über den Jammer und das Elend, dessen Zeuge der Priester fortwährend ist, über die Sünden und Beleidigungen Gottes, und schloss mit dem Ausruf: „Hätte ich es früher begriffen, was ein Priester ist, so wäre ich lieber nach La Trappe gegangen, als ins Seminar einzutreten.“
„Mein Gott“, rief eine unbekannte Stimme aus der Menge, „das wäre schade gewesen!“
Die von Gott über Vianney verhängten innerlichen Leiden waren stets besonders groß an den Tagen, an welchen die Kirche sich an das Leiden des Heilandes besonders erinnert. An jedem Freitag konnte man deutlich in seinen Zügen lesen, wie viel er litt. Für gewöhnlich jedoch bemerkte man äußerlich nichts von seinen inneren Kämpfen; er hatte seine Seele ganz in seiner Gewalt, so dass er trotz der größten Stürme ruhig und heiter erschien.
Eine Prüfung war noch nicht beendet, so begann wiederum eine neue für ihn. So hat auch die Erscheinung in La Salette dem Pfarrer von Ars viel Unruhe und Kummer bereitet. Er hat in dieser Beziehung selbst einen Vorfall erlebt, den wir im folgenden Kapitel erzählen werden.