Johann Baptist Maria von Vianney, Pfarrer von Ars - erstes Buch
Sechstes Kapitel: Vianney tritt in das kleine Seminar ein. Seine philosophischen und theologischen Studien. Eintritt ins Klerikalseminar. Empfang der hh. Weihen.
Die klassischen Studien Vianneys neigten sich ihrem Ende zu. Er hatte sich so viel menschliche Wissenschaft angeeignet, wie es seine Anlagen ihm gestatteten; was ihm jedoch an menschlicher Wissenschaft mangelte, wurde reichlich durch die vorzüglichen Eigenschaften seines Herzens und seiner Seele ersetzt. Es war Zeit, ihm die Schranken des Heiligtums zu öffnen. Demgemäß führte ihn sein Lehrer in das kleine Seminar zu Verrières, um dort den philosophischen Kurs zu absolvieren.
Damals wie noch jetzt herrschte zwar in Verrières ein guter Geist, gleichwohl wurde hier wie allerorts der neu eintretende Zögling von seinen Kameraden anfänglich mehr nach seiner wissenschaftlichen Ausbildung als nach den Gaben des Herzens und des Gemüts beurteilt. Die Wissenschaft blendet eben, während die Vorzüge des Inneren verborgen liegen und erst durch längeren Umgang ans Tageslicht treten. So war es auch hier. Die Zöglinge ahnten nicht, welch eine Perle in ihr Haus gekommen war, wohl aber entdeckten sie bald, dass er „nicht stark“ sei. Dieser Mangel an Gelehrsamkeit zog ihm denn auch mancherlei Spott und Schmach zu, wodurch er sich in der Demut und in der heiligen Gleichmütigkeit üben konnte.
Diese seine tiefe Demut ist in rührender Weise in einem Brief an seinen Vater gekennzeichnet, worin er nochmals um Verzeihung für allen verursachten Verdruß bittet. Kindliche Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe sprechen sich in jeder Zeile desselben aus.
Indessen änderte sich allmählich die Meinung über den jungen Vianney. Seine Mitschüler legten ihre früheren Vorurteile ab und bewiesen ihm eine ehrfurchtsvolle Zuneigung. Dieser Umschwung der Dinge ging zuerst von den Lehrern aus: Die trefflichen Priester, die damals an der Anstalt wirkten, entdeckten täglich neue gute Eigenschaften bei ihm. Sie staunten über seine Tugend und Frömmigkeit, besprachen sich untereinander darüber und ermangelten auch nicht, ihre Schüler auf Vianneys Beispiel hinzuweisen. Die allgemeine Liebe und Verehrung wurde noch erhöht durch die schöne Harmonie, welche unter all seinen Eigenschaften herrschte; daher kam es auch, dass er so liebenswürdig im Umgang war und alle seine Mitschüler seine Gesellschaft suchten.
Aus dieser allgemeinen Anerkennung, ja man darf sagen feurigen Bewunderung, entsprang unserem Johannes indessen eine neue Prüfung.
Das Seminar ist eine Welt im Kleinen. Der junge Mann muss sich dort im Kampf gegen die Leidenschaften seiner Mitschüler üben; später in der Welt wird er denselben Leidenschaften begegnen, nur in höherem Grade.
Unter den Seminaristen war einer, der es nicht ertragen konnte, wenn man Vianney lobte. Jeder Beweis von Achtung, jede Anerkennung, die diesem gezollt wurde, erregte in ihm bittere Gefühle. Er beließ es jedoch nicht nur bei feindseligen Gesinnungen, sondern suchte Vianney in jeder erdenklichen Weise zu demütigen, ohne dass es ihm gelang, die Sanftmut und Demut des frommen jungen Mannes zu erschüttern. Als nun der Seminarist eines Tages alle Maßhaltung verlor und nicht mehr Herr seiner selbst war, warf sich Vianney ihm zu Füßen und bat um Verzeihung. Und siehe, Gott lohnte die Treue und die Demut seines Dieners! Ergriffen von diesem Akt wahrer Demut, errötete der Schuldige, warf sich selbst zu Boden und flehte seinerseits um Verzeihung. Vianney hatte also durch sein edelmütiges Streben nicht nur über das Böse gesiegt, sondern er hatte seinen Bruder gewonnen. Betrachtet man solche Züge, die sich schon damals bei Vianney zeigten, so staunt man nicht mehr über den Heldenmut des späteren Pfarrers von Ars.
Im Juli desselben Jahres 1813 kehrte Vianney nach Écully zurück, um unter der Leitung des Herrn Balley seine theologischen Studien zu beginnen. Hier fühlte er sich gleich zu Beginn mehr zu Hause; diese Studien entsprachen seinem ganzen Wesen, regten Geist und Gemüt an und bereiteten ihm deshalb nicht dieselben Schwierigkeiten wie die anderen Wissenschaften. Hier fand er nicht jene Trockenheit und Leere, die ihn bei seinen früheren Studien so oft entmutigt hatten. Sein Lehrer hielt es für angebracht, die Methode zu vereinfachen und durch einen verständlichen Unterricht den damals üblichen Lehrgang zu ersetzen. Nachdem der Lehrer mit unermüdlichem Eifer zwei Jahre lang den fleißigen Schüler unterrichtet hatte, hielt Balley den jungen Theologen für fähig, das erforderliche Examen zu bestehen, um sodann im Klerikalseminar von Lyon Aufnahme zu finden. Doch hier hatte Gott seinem frommen Diener eine jener Prüfungen bereitet, durch die es ihm gefiel, dessen Seele zu läutern und zu veredeln: Er wollte ihm das Siegel der Auserwählten aufdrücken – das Zeichen des Kreuzes.
Das imponierende Auftreten der Examinatoren verwirrte den jungen Theologen derart, daß er alle Sicherheit verlor und nur nichtssagende, unzusammenhängende Antworten gab; er wurde demnach nicht aufgenommen und mit wenig ermutigenden Äußerungen entlassen. Pfarrer Balley, tief betrübt darüber, sprach gleich nach dem Examen mit dem Regens des Seminars, machte ihn mit allen Umständen bekannt und bat ihn, andern Tags mit dem Generalvikar zu einem nachträglichen Examen zu ihm nach Écully zu kommen. Beide Herren willfahrten seiner Bitte, examinierten unsern Freund nochmals, erklärten sich für befriedigt und versprachen, einen günstigen Bericht beim Ordinariat abzugeben. Sie hielten Wort, und Vianney bekam die ersehnte Aufnahme ins Seminar, um sich auf die heiligen Weihen vorzubereiten.
Hier in diesem Hause, kann man mit Wahrheit sagen, führte Vianney das Leben eines Engels. Eingedenk seines erhabenen Berufes strebte er danach, sein Leben mehr und mehr in Einklang zu bringen mit der Würde, zu der Gott ihn bestimmte. Seine Tugenden und sein Streben nach Vollkommenheit konnten den Augen seiner Mitschüler nicht entgehen, aber seine einzelnen Akte der Selbstverleugnung waren nur Gott bekannt. Eine Übertretung der Statuten kam natürlich bei ihm nie vor; das Silentium beobachtete er mit gewissenhafter Genauigkeit; zur Zeit der Erholung aber sonderte er sich nie ab, sondern er unterhielt sich mit allen, wie es sich eben traf. Von allen Eigenschaften, die er besaß, kann man kühn behaupten, daß keine oberflächlich war, sondern wirklich und wahr. Zum Beispiel die Artigkeit und Gefälligkeit gegen andere, wodurch er sich so sehr auszeichnete, war nicht darauf berechnet, dadurch angenehm zu werden und sich selbst eine Annehmlichkeit zu bereiten, sondern er dachte dabei nur an seine Umgebung; daher war er im Benehmen gegen alle gleich.
Man hat die wissenschaftliche Mittelmäßigkeit Vianneys wohl übertrieben; die Natur hatte ihn zwar wenig begabt, allein dennoch ist man in dieser Hinsicht zu weit gegangen; vermutlich ließen viele sich irreleiten durch die demütigen Äußerungen, die er über sich selbst machte. Mehrere Priester, die mit ihm im Seminar waren, legen dem entgegenlautende Zeugnisse von ihm ab. Sie stimmen darin überein, daß er keine glänzenden Geistesgaben besessen, aber ein gesundes, richtiges Urteil gehabt habe. Übrigens war dieses Mißtrauen Vianneys gegen sich die Quelle der mannigfaltigsten Akte der Demut, die besonders in seinen Gebeten sich aussprach; diese demütigen Gebete waren Gott gewiß sehr wohlgefällig und fanden Erhörung, da die Begebenheiten seines späteren Lebens sich kaum anders deuten lassen.
Indessen rückte die Zeit der Weihen allmählich näher, und die Vorsteher des Seminars, durchdrungen von der großen Verantwortung, die ihnen oblag, berieten sich und prüften mit der größten Gewissenhaftigkeit die einzelnen Aspiranten zum Priestertum. Die Reihe kam auch an Vianney; alle waren unschlüssig, was zu tun sei; seine Frömmigkeit war so gediegen, seine Sitten so rein, aber andererseits war er so wenig unterrichtet! Sollte man ihn zurückweisen oder zulassen? Zuletzt entschied man sich, die Sache der bischöflichen Autorität zu unterbreiten. Politische Verhältnisse hielten damals den Kardinal-Erzbischof von seiner Herde fern, und an der Spitze der Diözese stand der Generalvikar Lourbon, ein Mann, der in erstaunlichem Grade die Gabe hatte, Menschen zu beurteilen und dieselben an die für sie passende Stelle zu setzen. Als man ihm den Fall in Betreff Vianneys vorlegte, dachte er einen Augenblick nach und fragte sodann: „Ist der junge Vianney fromm? Kann er seinen Rosenkranz beten? Ist er ein warmer Verehrer der Mutter Gottes?“ Die einmütige Antwort lautete: „Ja, er ist ein Muster von Frömmigkeit.“ – „Nun wohl,“ erwiderte er, „ich nehme ihn an, die Gnade wird das Fehlende ersetzen.“
Der Pfarrer Balley hatte übrigens schon früher mit dem Generalvikar über Vianney gesprochen und in so beredten Worten seinen geliebten Sohn geschildert, daß der Generalvikar sich bereits ein Urteil über den jungen Theologen gebildet hatte. Der Pfarrer von Ars sagte darauf anspielend öfters: „Herr Balley hat eine Sache verteidigt, worüber er sich vor Gott schwer wird rechtfertigen können, da er die Verantwortlichkeit für einen so armen Unwissenden, wie ich bin, übernommen hat!“
Dies ist der einzige Vorwurf, den er seinem Lehrer je gemacht; sicherlich wurde es demselben nicht schwer, Rechenschaft dafür am Throne Gottes abzulegen.
Gewöhnlich wurden seit der Abwesenheit des Erzbischofs die Weihen von einem benachbarten Bischof, und zwar meistens vom Bischof von Grenoble, vorgenommen; die Alumnen mußten daher nach Grenoble reisen. Dieses Mal jedoch kam der Bischof nach Lyon, und die Weihe wurde in der Domkirche erteilt. Vianney wurde am 2. Juli 1814 zum Subdiakon geweiht.
Der Alumnus, der ihm damals zur Seite stand, berichtete später, daß der Anblick der tiefen Frömmigkeit Vianneys einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht habe. Als man beim Rückzug ins Seminar das Benedictus gesungen hatte, habe Vianney die Worte: „Und du, Knabe, wirst Prophet des Allerhöchsten genannt werden; denn du wirst hergehen vor dem Angesichte des Herrn, seine Wege zu bahnen.“ (Luk. 1, 76) so eigentümlich betont, daß es ihm noch im Ohre klinge.
Im folgenden Jahr war er Diakon und sechs Monate später empfing er die Priesterweihe im Dome von Grenoble, von dem hochwürdigsten Bischof Simon, der ihm auch die ersten Weihen erteilt hatte. Nur Gott allein weiß es, was in diesem erhabenen Augenblick, jetzt wo er das Ziel seines inbrünstigen Verlangens erreicht, in ihm vorging; allein ahnen kann man es, wenn man sein späteres Leben und Wirken, seinen heiligmäßigen Lebenswandel und all die Tugendakte betrachtet, die wir im Laufe dieses Buches berichtet werden.