Fünftes Kapitel: Seine erste Flucht.
Öfters schon haben wir im Laufe unserer Erzählung bemerkt, daß Vianney immer von dem Gedanken erfüllt war, der Bürde, die ihm anvertraut war, nicht gewachsen zu sein, und demgemäß stets den Wunsch hegte, seiner Stelle enthoben zu sein.
Nach seiner Genesung nahmen die Pilgerfahrten bedeutend zu; es schien, als wolle man sich dafür entschädigen, daß man so lange seines Rates beraubt gewesen sei; täglich wuchs die Liebe und Verehrung zu ihm, und immer größer wurde die Zahl derer, die ihn zu sehen wünschten.
Monseigneur Devie hatte die außerordentlichen Anstrengungen des Pfarrers von Ars, denen er erlegen war, wohl in Betracht genommen; er war entschlossen, ihm Hilfe angedeihen zu lassen und teilte ihm einen Hilfspriester zu. Da dieser Priester nun noch überdies der besonderen Liebe Vianneys sich erfreute und glücklich in dem Gedanken war, ihm untergeordnet zu sein, so glaubte Bischof Devie, dadurch ihn am leichtesten von dem Gedanken an ein Zurückziehen abzubringen. Indessen irrte sich der gute Bischof, denn dieser Umstand trieb Vianney noch mehr an, seinen Vorsatz auszuführen; jetzt, da er einen jungen, eifrigen und frommen Priester an seiner Seite sah, meinte er, um so leichter sich in einen unbekannten Winkel der Erde zurückziehen zu können.
Die Sehnsucht nach der Einsamkeit war ein fortwährender Hang unseres Pfarrers, deshalb nannte er stets die Zeit, wo er als Hirtenknabe die Herde seines Vaters gehütet hatte, die glücklichste seines Lebens.
Vielleicht hing er dieser natürlichen Neigung zu sehr nach; vielleicht suchte ihn der Teufel dadurch zu verführen; jedenfalls hatte er sein ganzes Leben damit zu kämpfen; die Natur trieb ihn zur Einsamkeit, Gott aber hatte ihn zum Apostel bestimmt. Gewiß hatte die Vorsehung auch hierin, wie in allem, ihren bestimmten Plan. Der gute Pfarrer mußte dadurch stets seine Neigung unterdrücken und sich dem göttlichen Willen unterwerfen, während er andererseits durch die ihm angeborene Neigung ein beschauliches Leben mitten im tätigen Wirken führte. Übrigens bemerkte man nichts an ihm, was auf diese natürliche Neigung hätte schließen lassen; er war stets heiter und freundlich, und der Gedanke, sich in ein stilles Kloster zurückzuziehen, rührte hauptsächlich von seiner Demut her, vermöge welcher er meinte, er sei zu nichts fähig, wisse und könne nichts, und sei eine Last für die Kirche.
Am 13. September führte er denn auch wirklich seinen Vorsatz aus, und zwar reiste er in aller Stille in der Nacht um 1 Uhr ab; er hinterließ einen Brief an Herrn des Garets, den damaligen Besitzer des Schlosses von Ars, in welchem er sagte, er wolle sich auf einige Tage zu seinem Bruder begeben, damit der Zudrang von Fremden sich ein wenig verlaufen möchte; allein zwischen den Zeilen dieses Briefes konnte man deutlich lesen, daß seine Abwesenheit nicht für einige Zeit nur berechnet sei.
Aus den Berichten der Catharina Lassagne ersieht man, daß er den schon lang gehegten Wunsch, sich zurückzuziehen, ausführen wollte, und seine geistigen Töchter am Abende des 12. September davon in Kenntnis setzte. Eine fremde Person hatte zufällig diese Worte erhascht und eilte sogleich ins Dorf, um diese Nachricht daselbst zu verbreiten. Die Gemeinde wachte nun die ganze Nacht hindurch; um 1 Uhr öffnete sich die Hinterpforte des Hauses und der Pfarrer schlich eilends hinaus; man lief ihm nach und erreichte ihn; man wollte noch mit ihm sprechen, seinen Segen empfangen; er aber setzte ungehindert seinen Weg fort.
Der treue Pertinant wollte ihn durchaus nicht verlassen und begleitete ihn auch wirklich. Die Art und Weise, wie er seinen Weg verfolgte, machten es klar, daß er denselben verbergen wollte; er machte bedeutende Umwege und kam mit wunden Füßen nach Dardilly zu seinem Bruder. Pertinant hatte ihn bis dahin begleitet; jetzt sandte Vianney denselben nach Ars zurück, um den guten Herrn des Garets zu beruhigen. Dieser eilte auch sogleich nach Dardilly; allein er fand den Pfarrer nicht; daher schrieb er ihm einen Brief, in welchem er den Entschluß des Pfarrers zu erschüttern versuchte. Man weiß denn auch auf das Bestimmteste, daß dieser Brief großen Eindruck auf Vianney gemacht und er denselben mehrmals gelesen. Übrigens hatte er Dardilly nicht verlassen; er führte dort ein ganz zurückgezogenes Leben, nachdem er bei seiner Ankunft nur seine Bekannten und Verwandten flüchtig begrüßt hatte. Da er wohl ahnte, Herr des Garets werde kommen, und er sich nicht stark genug fühlte, so hatte er seinem Neffen aufgetragen, jedem, der nach ihm fragen würde, zu erwidern, er wisse nicht, wo er sei, und um nun eine Notlüge zu vermeiden, verschwand er denn auch des Morgens, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging.
In Ars jedoch hielt man dafür, der Pfarrer habe Dardilly verlassen; der gute Pertinant war abgereist und wollte reisen, bis er seinen Herrn gefunden habe. Die Pfarrei war in tiefer Betrübnis über den Verlust ihres Seelsorgers, und die Schulkinder besonders vermißten ihn und jammerten um ihn. Als Probe der allgemeinen Anhänglichkeit an unseren Pfarrer teilen wir hier einige Zeilen mit, die ein Gastwirt ihm nachschickte. Dieser fürchtete, ihn vielleicht durch die Betreibung seines Geschäftes beleidigt zu haben, und schrieb ihm:
„Ich bitte Sie dringend um alles in der Welt, uns doch nicht zu verlassen. Ich wiederhole Ihnen, was ich schon so oft zu Ihnen gesagt: Ist irgend etwas in meinem Hause, was Ihnen nicht gefällt, so unterwerfe ich mich ganz Ihrem Willen.“
Auch Catharina Lassagne schrieb ihm. Sie allein war in das Geheimnis eingeweiht; ihr verbarg er nichts, weil er ihren kindlichen und zarten Gehorsam kannte. Obgleich vielleicht niemand so durch die Trennung von Vianney litt, so drang sie doch nicht in ihn; sie wollte nur, daß Gottes Wille geschehe! – Sie teilte ihm mit, daß sie nur noch fünfzehn Kleine habe und beschwört ihn im Namen Gottes, Sorge für seine Gesundheit zu tragen.
Aus ihren Briefen ersieht man, daß Herr Raymond, der vom Bischofe dem Pfarrer von Ars zugeteilte Hilfspriester, bei dem Bischofe gewesen, um diese Angelegenheit zu ordnen. Demzufolge schrieb der hochwürdigste Bischof an Vianney, um ihm zu sagen, wie sehr er wünsche, daß derselbe in Ars bleibe, trotz der Gründe, die er zu haben glaubte, und daß er hoffe, er werde auf den Wunsch seines Bischofes eingehen. Um ihn jedoch nicht zu zwingen, bot er ihm zwei andere Stellen an. Wie aus einem Briefe des Bischofs an Herrn des Garets ersichtlich ist, hoffte der Bischof, ihn dadurch von seinem Entschlusse abzubringen und zur Rückkehr in seine Pfarrei zu vermögen. Übrigens war der Bischof fest entschlossen, seiner Diözese diesen Schatz zu erhalten und ihm unter keiner Bedingung die Erlaubnis zum Austritt zu geben.
Ars hatte einen ganz veränderten Charakter; die Pilgerschar war verschwunden und alles war öde und leer, wie ausgestorben. Seit dem 15. September umgab sich Vianney nicht mehr mit so großen Vorsichtsmaßregeln; man hatte seine Spur aufgefunden und die Pilger strömten nun nach Dardilly, wie früher nach Ars, und da alle beichten wollten, sah Vianney sich genötigt, sich um die nötigen Vollmachten in Lyon zu bewerben. Bald hatte sich das Gerücht von seiner Anwesenheit nach Lyon verbreitet und am nächstfolgenden Sonntag strömten die Pilger in Scharen von Lyon heraus; auch von Ars traf ein Omnibus ein, so daß, wie seine Nichte erzählt, an diesem Tage ein solcher Zudrang von Fremden gewesen, daß man unmöglich den Forderungen der Gastfreundschaft genügen konnte. Erst nach der Vesper konnte die Familie ihr Mittagessen einnehmen; Vianney aß mit derselben; aber trotz allen Zuredens nur eine gekochte Birne. Dagegen sprach er viel und sagte unter anderm zu seiner Nichte:
„Wenn du einmal Sterbenden beistehen und sie auf das Erscheinen vor Gottes Richterstuhl vorbereiten mußt, so höre doch nicht auf, ihnen zu sagen, du seiest noch nicht ohne alle Hoffnung. Als mich in den letzten Tagen alle aufgegeben, und der Arzt, nachdem er meinen Puls gefühlt, gesagt: ‚Er hat nur noch einige Minuten zu leben‘, und niemand mir irgend ein anderes Wort sagte, dachte ich bei mir selbst: In einigen Minuten wirst du vor Gott stehen; du wirst da mit leeren Händen erscheinen. Als ich dann an die vielen Personen dachte, die draußen standen und teilweise weit hergekommen waren, um zu beichten, da empfahl ich mich von ganzem Herzen der heil. Jungfrau und der heil. Philomena und sprach: ‚Herr, wenn ich noch nützlich bin, so nimm mich noch nicht aus dieser Welt.‘ Im nämlichen Augenblicke fühlte ich meine Lebenskraft wiederkehren und meine Kräfte wachsen.“
Das Zuströmen von Fremden nahm indessen immer zu, so daß Vianney gar wohl einsah, wie störend dies für die Seinigen war, was nicht wenig dazu beitrug, seinen Entschluß zur Reife zu bringen.
Das Zuströmen von Fremden nahm indessen immer zu, so daß Vianney gar wohl einsah, wie störend dies für die Seinigen war, was nicht wenig dazu beitrug, seinen Entschluß zur Reife zu bringen. Inzwischen war schon am 16. September der Pfarrer Raymond in Dardilly eingetroffen, mit dem festen Entschlusse, nicht eher den Ort zu verlassen, bis er den Schatz wieder erlangt habe, dessen Verlust alle so schmerzlich empfanden. Nicht sobald hatte man jedoch in Dardilly den Zweck seiner Ankunft erfahren, als man ihm alle möglichen Hindernisse in den Weg legte. Die Einwohner von Dardilly hatten sich verschworen, den heiligen Pfarrer bei sich zu behalten. So kam es denn, daß es Raymond erst nach zwei Tagen gelang, Vianney zu sehen, wo sie dann eine Zusammenkunft bei einem benachbarten Pfarrer verabredeten und auf den folgenden Tag festsetzten.
Am Morgen weckte Vianney sehr früh seinen Bruder, teilte ihm seinen Plan mit und bat um seine Begleitung. Die Kräfte des Pfarrers von Ars waren indessen durch die neuen Anstrengungen so geschwunden, daß er nicht zu Fuße gehen konnte; sein Bruder ließ nun ein Pferd satteln und führte dasselbe bis zu dem Dorfe, wo die Zusammenkunft stattfinden sollte; hier trennten sie sich. Vianney suchte den Pfarrer Raymond auf, und nachdem sie miteinander die heil. Messe gelesen, gingen sie zusammen nach dem der heil. Jungfrau geweihten Gnadenorte Beaumont, wohin der Bischof Devie dem Pfarrer vorgeschlagen hatte, sich zurückzuziehen. Dies war ein hartes Unternehmen für Vianney; das Gehen fiel ihm schwer und das Rütteln eines Wagens hätte er noch weniger ertragen können. Man kam an einer Kirche vorbei und Vianney trat in dieselbe mit seinem Gefährten ein, um das Brevier zu beten. Als sie sich zurückziehen wollten, waren sie nicht wenig erstaunt, daß die Kirche voller Leute war. Aufgefordert von Raymond, sprach Vianney einige Worte zu den Versammelten mit so klarer, starker Stimme, daß alle ihn verstanden.
Nachdem sie unterwegs die Nacht verbracht, langten sie den andern Morgen in Beaumont an, um daselbst die heilige Messe zu lesen. Während der darauffolgenden Danksagung neigte sich Vianney plötzlich zu Raymond und sagte in entschiedenem Tone:
„Kehren wir nach Ars zurück.“
Man denke sich die Freude Raymonds! Ohne Zweifel war dies eine Eingebung von oben, wofür die Pfarrei nie unterließ, der heiligen Jungfrau zu danken, deren Fürbitte man es zuschrieb.
Schnell war ein Wagen gefunden, und Raymond trat mit dem ihm wiedergeschenkten Pfarrer die Reise an, um ihn seiner verwaisten Herde zurückzuführen. Während einer kurzen Ruhe, die Vianney unterwegs bedurfte, sandte Raymond einen Boten mit der freudigen Botschaft nach Ars. Als daher der Pfarrer von Ars mit seinem Begleiter ankam, wurde er von seiner, ihn mit ungeduldiger Sehnsucht erwartenden Gemeinde mit inniger Freude und tiefer Rührung empfangen. Alles drängte sich um den vielgeliebten Vater, und jeder war glücklich, wenn er nur sein Kleid berühren konnte. Und wie ergreifend war der Augenblick, als er auf dem Platze vor der Kirche angekommen, seiner Gemeinde den Segen erteilte! Hierauf begab er sich in die Kirche und hielt dort das gewöhnliche Abendgebet. Dieser Tag der Freude und des Glückes wird allen Bewohnern von Ars unvergesslich bleiben.